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Dr. Josef Schutser (Zentralrat der Juden in Deutschland), Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Gastbeitrag von Dr. Josef Schuster und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

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Dr. Josef Schutser (Zentralrat der Juden in Deutschland), Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Was bedeutet es, wenn man Religionsfreiheit ernst nimmt? Gerne vergessen wir die in Artikel 4 des Grundgesetzes verbriefte Gewährleistung der Ausübung der Religion. In einem säkularen Staat wie der Bundesrepublik Deutschland kann sie aber nicht schrankenlos gelebt werden.

Feiertage sind untrennbarer Bestandteil des religiösen Glaubens und Lebens. Zur freien Religionsausübung gehört auch, dass die Gläubigen entsprechend ihres Glaubens die Feiertage begehen können. Das sind sowohl fröhliche Feste wie auch Tage der Besinnung und Ruhe, die allein oder in der Gemeinschaft begangen werden. Die Religionsfreiheit nach Artikel 4 Grundgesetz verlangt, wie beschrieben, dass die Entfaltungsmöglichkeiten für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich- religiösem Gebiet gewährleistet werden. Für die Ausgestaltung hat der Gesetzgeber einen weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum. Durch Landesgesetze und durch praxisbezogene Maßnahmen kann er ausgefüllt werden.

Dieses Austarieren zwischen religiöser Bindung und dem Bekenntnis zu einem weltlichen Staat ist eine der Grundlinien, die unser Zusammenleben bestimmen. Es ist wichtig, dass dies in einem gesellschaftlichen Konsens passiert. Dafür ist eine stetige Debatte notwendig.

Eine in den vergangenen Jahren häufig verhandelte Frage ist der Umgang mit hohen jüdischen Feiertagen, an denen für observante Judinnen und Juden ein Werkverbot herrscht. Das bedeutet, dass an solchen Tagen nicht gearbeitet oder geschrieben werden darf. Schülerinnen und Schüler haben in allen Ländern die Möglichkeit, an diesen Tagen dem Unterricht fern zu bleiben. Fallen allerdings Klausuren auf einen der Feiertage, sind die Schüler gezwungen, den Nachschreibetermin wahrzunehmen. Dieser leidliche Ausweg bleibt Studierenden mit dem Ziel Staatsexamen jedoch verwehrt. Durch die bundesweit einheitliche Festlegung der Termine müssen Studierende im Ernstfall ein halbes Jahr oder länger auf die nächste Prüfung warten, die vor allem im Fach Medizin im Frühjahr in die Zeit von Pessach und im Herbst auf Rosch Haschana oder Jom Kippur fallen kann.

Leider stießen verschiedene Initiativen, unter anderem des Zentralrats der Juden und jüdischer Studierender, auf zum Teil ungehörige bürokratische Mauern und Unverständnis bei den Prüfungsbehörden. Wir sind aber davon überzeugt, dass religiöses Leben mit den Anforderungen unserer immer durchgetakteren Gesellschaft vereinbar ist, ja vereinbar bleiben muss.

Ein positives Zeichen sind Signale zum Beispiel des Instituts für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen (IMPP), das die bundesweiten Prüfungstermine für die medizinischen, pharmazeutischen und psychotherapeutischen Staatsexamina festlegt. Durch intensive Gespräche auf verschiedenen Ebenen konnte erreicht werden, dass künftig jüdische Feiertage mit Werkverbot bei der Prüfungsterminierung genauso berücksichtigt werden wie gesetzliche Feiertage.

Um eine solche Berücksichtigung künftig dauerhaft zu gewährleisten und in diesem Sinne Grundlagen zu schaffen, plädieren wir in diesem Bereich für klare und eindeutige Regelungen – für Schülerinnen und Schüler, Studierende und Lehrende. Ganz entscheidend ist darüber hinaus, dass es ein weit verbreiteteres Wissen über und besseren Verständnis für religiöse Feiertage und Werkverbote der Religionen in Deutschland geben muss – nicht nur der christlichen. Die Landesregierung gibt seit einigen Jahren einen interreligiösen Kalender heraus, der bei Planungen von Prüfungen an den Universitäten, Fernhochschulen und Prüfungsämtern in allen Bereichen berücksichtigt werden sollte.

Uns ist bewusst, dass wir in einer säkularen Gesellschaft leben, in der es immer weniger formale Bindung an Religionen gibt. Gleichzeitig suchen die Menschen aber auch Orientierung in ganz persönlichen oder gesellschaftlich relevanten Fragen gerade bei Religions- und Glaubensgemeinschaften. Säkular heißt ja nicht gottlos, und darf es auch nicht heißen. Und die Freiheit von Religion muss auch immer die Freiheit für Religion beinhalten. Das Postulat vom Schwinden der religiösen Bindung ist verkürzt. Wir befinden uns als Gesellschaft in einem Prozess der Neuordnung unseres Verhältnisses zur Religion und zu religiösen Konzepten insgesamt. Wir sollten gerade jetzt darauf achten, dass die für unsere innere Verfasstheit so zentralen Werte wie Religionsfreiheit und die Gewährleistung der Religionsausübung geschützt werden. Zu lebendigem jüdischen Leben in Deutschland gehört für uns selbstverständlich, dass es keine Nachteile für die Ausübung der jüdischen Religion geben darf. Es darf nicht nur darüber geredet, sondern es muss auch gehandelt werden – mit angemessenen, verhältnismäßigen Regelungen nach einer intensiven Debatte, die die Menschen mit guten Argumenten überzeugt.

 

Den Gastbeitrag aus der Rheinischen Post am 29.08.2023 finden Sie hier